Geschichtlicher Hintergrund und gegenwärtige Rechtslage Afghanistans
Allgemeine Informationen zu Afghanistan
Afghanistan ist ein ethnisch und kulturell vielfältiger Binnenstaat in Südostasien, der im Norden und Westen an Pakistan und im Osten an den Iran grenzt. Die Bevölkerung beläuft sich auf rund 41,1 Millionen Einwohner.1 Die größte ethnische Gruppe des Landes sind die Paschtunen, gefolgt von den Tadschiken und Usbeken, während die Hazara und die Turkmenen jeweils 10 % bzw. 9 % der Bevölkerung ausmachen. Die Amtssprachen des Landes sind Dari und Paschto. Die dominierende Religion im Land und unabdingbar für das Verständnis der afghanischen Kultur ist der Islam. Rund 85 % der Bevölkerung sind sunnitische Muslime, 10-15 % sind Schiiten. Die Hauptstadt Afghanistans ist Kabul. Das Land ist in 34 Provinzen unterteilt, die in Distrikte gegliedert sind. Das derzeitige Regierungssystem Afghanistans kann als zentralistisch-theokratische Präsidialregierung bezeichnet werden.
Machtübernahme der Taliban-de-facto-Regierung seit August 2021
Mit dem Abzug der US-Truppen und der NATO-Verbände am 31. August 2021 haben die Taliban vollumfänglich die Macht übernommen. Der Anführer der Taliban, Hibatullah Akhundsada, der als Emir bezeichnet wird, ist das Staatsoberhaupt. Er gibt moralische, religiöse und politische Erklärungen ab und ist Oberbefehlshaber über die militärischen Streitkräfte. Sechs Wochen nach der Machtübernahme durch die Taliban wurde die Islamische Republik Afghanistan umbenannt in Islamisches Emirat Afghanistan; es wurde eine Übergangsregierung gebildet, die sich an der Verfassung von 1964 orientiert und die Verfassung von 2004 abgelöst hat. Des Weiteren hat die Taliban-Regierung zahlreiche Ministerien und Institutionen der vorherigen Regierung aufgelöst, darunter auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten zur Förderung von Geschlechtergleichheit. Stattdessen wurde das Ministerium für die Verbreitung der Tugend, die Verhütung des Lasters und die Anhörung von Klagen (vezârat-e amr bi-l-ma´rûf, nahî ´an ol-monkar va sam´-e shekâyât), das bereits unter den Taliban in den 1990er Jahren etabliert wurde und das auch Ableger in den einzelnen Provinzen hat, wieder eingesetzt. Es handelt sich um eine Art Moralpolizei, die die Einhaltung bestimmter Kleidungs- und Verhaltensvorschriften durchsetzt.
Die von den Taliban umgesetzten Maßnahmen schränken die zuvor verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte erheblich ein; das gilt insbesondere für Frauen und Mädchen, die systematisch aus dem öffentlichen Leben verdrängt und in grundlegenden Rechten diskriminiert werden. Auch die öffentlichen Rundfunkanstalten und Medien unterliegen der Zensur und die Meinungsfreiheit ist weitgehend eingeschränkt.
2001-2021
Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 intervenierten die USA in Afghanistan. Am 22. Dezember 2001 wurde Hamid Karzai als Interimspräsident eingesetzt, am 8. Dezember 2004 wurde er zum ersten gewählten Präsidenten Afghanistans. 2014 folgte ihm Aschraf Ghani (bis zum 15. August 2021, als die aufständischen Taliban die Hauptstadt Kabul einnahmen). Das Bonner Petersberg-Abkommen vom 5. Dezember 2001 legte sodann den Grundstein für die politische und rechtliche Neuordnung Afghanistans. Nach dem Abkommen galt bis zur Verabschiedung einer neuen afghanischen Verfassung die Verfassung von 1964. Das Petersberg-Abkommen bestimmte weiter, dass alle bestehenden Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften bis zur Verabschiedung neuer Gesetze weiter gelten, soweit sie keine völkerrechtliche Verpflichtung, an die Afghanistan gebunden ist, verletzen. Am 26. Januar 2004 trat die neue Verfassung Afghanistans in Kraft. Sie enthielt einen umfassenden Katalog an politischen Rechten und grundlegenden Menschenrechten. Ihr waren monatelange Debatten und Befragungen in der und durch die lôya jirga (dem späteren afghanischen Parlament) vorangegangen. Neue Wahlgesetze wurden erlassen und alle Mühen richteten sich auf den Aufbau eines funktionierenden Staatsapparates.
Die politische Lage in Afghanistan blieb aber auch in den Jahren 2001-2021 prekär. Die Verfassung konnte nicht umfassend umgesetzt werden und das Bestreben, ein funktionierendes Justizsystem aufzubauen, scheiterte in vielerlei Hinsicht.
Kommunismus, die Republik Afghanistan und die Herrschaft der Taliban (1963-2001)
1963 übernahm Mohammed Zahir Schah, seit 1933 zwar nominell König von Afghanistan, die tatsächlich aber bis dato von seinen Onkeln als Ministerpräsidenten ausgeübten Regierungsgeschäfte und erließ am 1. Oktober 1964 die dritte Verfassung Afghanistans. Sie proklamierte zum ersten Mal die Gewaltenteilung, sah die Bildung demokratischer Strukturen (politischer Parteien) und eine parlamentarische Demokratie sowie die Unabhängigkeit der Justiz vor.2 Auch konnte der Verfassung erstmalig eine Definition des Begriffes „Gesetz“ (qânûn) entnommen werden, die sich an der formalen Entstehung des Rechts orientierte: Danach war ein Gesetz ein Akt, der von beiden Kammern des Parlaments erlassen und vom König unterschrieben wurde. Bei Gesetzeslücken sollte das hanafitische Recht als Lückenfüller herangezogen werden. Zugleich bestimmte Art. 2, dass die „heilige Religion des Islams“ die Religion Afghanistans sei. Alle Gesetzgebungsakte sollten fortan in einem amtlichen Gesetzblatt, der rasmî jarîde, veröffentlicht und den Gerichten und Behörden zur Verfügung gestellt werden. Die tatsächliche Veröffentlichungspolitik des afghanischen Justizwesens unterlag, in Abhängigkeit von der politischen Situation des Landes, fortan jedoch großen Schwankungen.
In der Praxis wurden die Postulate der Verfassung indes nicht umgesetzt. Die durch die Verfassung vorgesehene Stärkung demokratischer Strukturen stand im Konflikt mit der bis dahin De-facto-Autorität der Exekutive, was zu weitreichenden Auseinandersetzungen und schließlich zur Handlungsunfähigkeit des Staatsapparates führte. Zugleich gewannen sozialistische und kommunistische Strömungen an Zulauf. Die bedeutendste politische Partei war die prosowjetische Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA). 1973 putschte sich die DVPA an die Macht. Die Republik Afghanistan wurde ausgerufen. Doch die Opposition formierte sich und eine gewaltsame Auseinandersetzung schien unausweichlich. Um die politische Situation zu stabilisieren, wurde am 24. Februar 1977 die vierte afghanische Verfassung erlassen. Nicht nur schaffte die Verfassung die Monarchie ab, sie übernahm auch neue Konzepte und Werte, wie den Nationalismus und den Sozialismus. Zugleich schrieb die Verfassung die Gleichheit der Geschlechter vor. Doch Afghanistan kam nicht zur Ruhe. 1978 putschte sich der prosowjetische Flügel der DVPA an die Macht (die sogenannte Saur- oder April-Revolution). Am 28. April 1978 wurde eine neue Verfassung erlassen, die vor allem eine Restrukturierung der politischen Macht nach sowjetischem Modell vorsah. Doch die Konflikte eskalierten, im ganzen Land brachen Unruhen aus, die zunächst brutal niedergeschlagen wurden. Zur gleichen Zeit konsolidierten sich islamische Oppositionsgruppen (die Mudschahedin) innerhalb des Landes und in Pakistan.3 Am 27. Dezember 1978 griff die sowjetische Führung unter Berufung auf das Sowjetisch-Afghanische Freundschaftsabkommen vom 5. Dezember 1978 militärisch in den Konflikt ein. Ein blutiger, zehn Jahre dauernder Krieg begann. Die prosowjetische Regierung versuchte, die Lage zu beruhigen. Am 21. April 1980 wurde die fünfte afghanische Verfassung erlassen.
Es folgten weitreichende Landreformen und eine Restrukturierung des Gerichtswesens mit der Errichtung eines Höchstgerichts, einer Anwaltskammer sowie einem Ministerium für islamische Angelegenheiten. Trotz dieser Initiativen verlor die Regierung an Glaubwürdigkeit. Vor allem das brutale Vorgehen gegen die Opposition und die völlige Missachtung menschenrechtlicher Standards verstärkte den Widerstand der Bevölkerung gegen die von Moskau unterstützte Regierung.4 Im Herbst 1985 hievten die Russen Mohammad Nadschibullah, den Chef des Geheimdienstes, an die Spitze des Staates.5 Doch auch er vermochte es nicht, die Parteien zu befrieden. Das Land ging im Chaos unter: Behörden, Schulen und Universitäten wurden geschlossen.6 Nadschibullah dankte ab und suchte Schutz im UN-Hauptquartier in Kabul, wo er schließlich 1996 von den Taliban ermordet wurde.
Die Invasion durch die Sowjets und der Bürgerkrieg hinterließen ein zerstörtes Land, über eine Million Tote, Millionen Flüchtlinge und weiterhin rivalisierende Gruppierungen, denen es nicht gelingen wollte, sich auf einen gemeinsamen Kurs zu einigen. Mit dem Erstarken der Taliban ab 1992 veränderte sich die Lage. Es gelang den Taliban zunächst, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu reduzieren, ihr Rechtsverständnis hingegen machte aus Afghanistan praktisch einen rechtsfreien Raum.7
Ab 1992 versuchten die unterschiedlichen Mudschahedin-Gruppierungen, ihre Machtsphären auszubauen, konnten sich aber letztlich nicht einigen, der Bürgerkrieg hielt an. Die Rechtslage in dieser Zeit ist schwer zu erfassen. Die Regierung der Mudschahedin erließ keine Gesetze oder Dekrete zur Klarstellung des anwendbaren Rechts; die Wirren der kriegerischen Auseinandersetzung erlaubten keine geordnete Rechtsausübung.8 Die staatliche Rechtsordnung kam zum Erliegen. Das Justizministerium in Kabul wurde als Militärbasis genutzt und die Rechtsarchive wurden zerstört.
Ab 1998 kontrollierten die Taliban fast 90 Prozent des Landes. Sie proklamierten die Scharia als das alleinige Recht des Landes und wandten ihr fundamentalistisches Verständnis des islamischen Rechts rigoros an. Das galt vor allem für die Vollstreckung von hadd-Strafen.9 Die Taliban errichteten zudem die „Behörde“ für islamische Angelegenheiten (vezârat-e amr bi-l-ma´rûf, nahî ´an ol-monkar va sam´-e shekâyât) mit der Befugnis, alle Dekrete der Talibanführung unmittelbar zu vollstrecken. Frauen verschwanden aus dem öffentlichen Raum und alle mussten bei Missachtung der neuen Regeln mit drakonischen Strafen rechnen.
Rechtsquellen in Afghanistan
Afghanistan war bis zur Bildung eines modernen Staatswesens und einer zentralisierten Verwaltungsorganisation durch Emir Dost Mohammed (1826-1863) eine Konföderation unterschiedlicher Stämme und ist bis heute ein Vielvölkerstaat.10 Die rund 55 ethnischen Gruppierungen, die zum Teil auch separate geographische Enklaven bildeten, folgten ihren jeweiligen Bräuchen und Gewohnheiten.11 Dieses tradierte Gewohnheitsrecht stellt die älteste und kontinuierlichste Rechtsquelle in Afghanistan dar.
Unter „Gewohnheitsrecht“ werden allgemeingültige kulturelle und ethnische Kodices verstanden, die für die Angehörigen einer bestimmten Gruppe als verbindliche Regeln anerkannt und der Beilegung von Streitigkeiten durch lokale Versammlungen zugrunde gelegt werden. Das Gewohnheitsrecht hat trotz großer regionaler Diversität gemeinsame Kernprinzipien, wie etwa den Grundsatz der Wiedergutmachung im Gegensatz zur Bestrafung12 sowie die Rechtspflege mittels Schlichtungsstellen (jirga, maraka oder shûrâ). Der bekannteste gewohnheitsrechtliche Kodex ist das Paschtunwali. Ihm folgen insbesondere die Paschtunen, die etwa 40 % der afghanischen Bevölkerung ausmachen.13 Das Paschtunwali wird als Ehrenkodex verstanden, der insbesondere an den Merkmalen Rache/Ausgleich (badd), Gastfreundschaft (melmastiyâ) und Asylgewährung (nanavâtî) ausgerichtet ist. Außerdem werden die persönliche Ehre (gheyrat) und die Bewahrung der Ehre, insbesondere die der Frauen (nâmûs), hoch bewertet. Das Paschtunwali hat keine religiöse Grundlage und einige seiner Grundprinzipien, wie etwa der Austausch von Frauen zur Streitbeilegung (badal), widersprechen den Grundprinzipien des islamischen Rechts.14 Interessanterweise wird das Gewohnheitsrecht von den Menschen oftmals als islamkonform wahrgenommen. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Befolgung der Gewohnheitsrechte sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form mit dem islamischen Recht im Einklang stehe.15
Das islamische Recht der sunnitisch-hanafitischen Rechtsschule, der vorherrschenden islamischen Rechtsschule in Afghanistan, ist seit der Islamisierung des Landes ab dem 10. Jahrhundert die zweite Rechtsquelle des afghanischen Rechts. Islamische Gelehrte wurden als Richter (qâzî) eingesetzt und urteilten auf Grundlage der Werke der hanafitischen Lehre. Erst zu Beginn der 1920er Jahre läutete die Proklamation der ersten afghanischen Verfassung, der Nezâmnâme-ye asâsî-ye doulat-e ´âlî-ye Afghânestân von 1923, unter König Amanullah Khan (reg. 1919-1929) das Zeitalter der Rechtskodifikationen und somit die moderne Rechtsgeschichte Afghanistans ein. Dieses Zeitalter ist historisch in die Kodifikations- und Modernisierungsbestrebungen des Nachbarlandes Iran und der Türkei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzubetten. Wie Reza Shah im Iran und Atatürk in der Türkei wollte Amanullah Khan Afghanistan durch Gesetzeskodifikationen und die Bildung einer Zentralregierung modernisieren und zentralisieren. Es sollten alle Rechtsgebiete, die bislang weder kodifiziert noch von den Normen der Scharia erfasst waren, positiv-rechtlich reguliert werden, um eine umfassende Rechtsordnung zu schaffen.
In der Folge wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige umfassende Kodifikationen erlassen, darunter das 2.416 Normen umfassende Zivilgesetzbuch von 1977, dessen Vorbild das ägyptische Zivilgesetzbuch von 1949 war. Das ZGB regelt alle Bereiche des Privatrechts einschließlich des Familien- und Erbrechts umfassend. Neben dem ägyptischen Recht sind im afghanischen ZGB auch Einflüsse des französischen Code civil auszumachen, etwa in Bezug auf die Regelungen zur Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Auch die im ZGB verankerte Registrierung von Statusverhältnissen geht auf das französische Vorbild zurück.
Inwieweit diese Kodifkationen tatsächlich angewandt wurden und die Rechtslandschaft beeinflussten, ist schwer einzuschätzen. Obwohl im letzten Jahrhundert große Anstrengungen für den Aufbau einer handlungsfähigen Zentralregierung unternommen worden sind, hat es in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches staatliches Recht gegeben. Folgt man den Untersuchungen, die sich bislang mit dem Rechtssystem in Afghanistan auseinandersetzten, so existierten viele formelle Gesetze und Regelungen in Afghanistan lediglich auf dem Papier.16
Neben dem formellen Gerichtswesen, das in der Zivilprozessordnung geregelt ist, existieren nichtstaatliche, informelle Gremien, denen internationalen Berichten zufolge etwa 85 % aller Streitigkeiten vorgelegt werden.17 Die überwiegende Mehrheit der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Fälle wird somit außerhalb der staatlichen Rechtsinstitutionen gelöst. Berichten der International Legal Foundation zufolge wurden und werden regelmäßig Streitigkeiten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt, Scheidung, Erbschaft und Ehe in der Regel zunächst innerhalb der privaten Sphäre der afghanischen Großfamilie ohne Einbeziehung der lokalen oder staatlichen Institutionen beigelegt. Werden Streitigkeiten jedoch publik oder haben sie für die Gemeinschaft an sich möglicherweise Folgen, werden sie den lokalen Schlichtungsstellen vorgelegt. Alle Mitglieder der Schlichtungsstelle haben unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung die gleichen Rechte. Die Entscheidungen, die mündlich mitgeteilt werden, sind für die Parteien bindend und werden in den meisten Fällen, auch ohne Zwang, umgesetzt. Zu den Hauptgründen für die Bevorzugung dieser informellen Streitbeilegungsstellen gegenüber staatlichen Institutionen zählt zum einen der Umstand, dass sie fest etabliert waren, auch jenseits und abseits der Staatlichkeit. Zum anderen entscheiden sie schneller und verursachen weniger Kosten als die Inanspruchnahme staatlicher Organe. Sie werden zudem von geachteten Stammesältesten mit angesehener gesellschaftlicher Stellung geleitet, die als fromm und gerecht gelten. Ihre Entscheidungen entsprechen den allgemein anerkannten lokalen Traditionen und Werten, die im kollektiven Bewusstsein der Ortschaft, des Stammes und der Einzelpersonen tief verwurzelt sind.18
Das afghanische Rechtssystem ist folglich ein Konglomerat aus regionalen Gewohnheiten und Stammeskodices, islamischen Grundsätzen sowie staatlich gesetztem positiven Recht. Verstärkt wird der normative Rechtspluralismus durch das Nebeneinander von formellen und informellen Streitbeilegungsmechanismen.19
Gegenwärtige Rechtslage
Mit der Übernahme der Kontrolle über Kabul durch die Taliban und der Ankündigung, ein islamisches Emirat (wie schon von 1996-2001) konstituieren zu wollen, stellt sich die Frage nach der Weitergeltung der bisherigen Normen und Kodifikationen zum Familienrecht. Nicht nur die politische Lage im Vielvölkerstaat Afghanistan ist komplex und vielfältig, sondern auch die Rechtslage.
Da das Zivilgesetzbuch (qânûn-e madanî) von 1977, verkündet am 5.1.1977 im Gesetzblatt rasmî jarîde Nr. 353, nie außer Kraft gesetzt wurde, ist von seiner Weitergeltung auszugehen. Als einzige Kodifikation des Zivilrechts kann das ZGB als Grundlage für die Beurteilung zivilrechtlicher Fälle herangezogen werden. Es ist eine umfassende Kodifikation und regelt auch das Internationale Privatrecht und das Familien- und Erbrecht.
Im Gegensatz zur Mehrheit der islamischen Länder ist das Familien- und Erbrecht in Afghanistan nicht interreligiös gespalten. Afghanen aller Religionszugehörigkeiten unterliegen den Regelungen des ZGB. Nur in Bezug auf die schiitisch-muslimische Bevölkerung wurde 2009 ein Sondergesetz erlassen, das Gesetz über das Personalstatut schiitischer Afghanen (qânûn-e ahvâl-e shakhsiye-ye ahl-e tashayyo´), GBl. Nr. 988 v. 27.7.2009 (im Folgenden: afgh.-schiit. PSG).
Die religiösen Rechte der übrigen Religionsgemeinschaften, insbesondere der Christen, Juden und Hindus, bleiben weiterhin unberücksichtigt, so dass die Vorschriften des afghanischen ZGB auf alle Afghanen (bis auf diejenigen, die der schiitischen Glaubensrichtung angehören) anzuwenden sind.
Die Taliban-Regierung hat seit 2021 einige Dekrete erlassen, die insbesondere das Verfahrensrecht betreffen. In Bezug auf das Familienrecht ist am 3.12.2021 das Dekret Nr. 395 von der Presseabteilung der Kulturabteilung veröffentlicht worden, in dem der Status von Frauen und ihre Rechte bei der Eheschließung konkretisiert werden.
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Fußnoten
1 Statistisches Bundesamt, Afghanistan – Statistisches Länderprofil, https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Laenderprofile/afghanistan.pdf, letzter Zugriff: 6.3.2024.
2 S. H. Amin, Law, reform and revolution in Afghanistan, Glasgow 1993, 17.
3 Ralph H. Magnus/Eden Naby, Afghanistan: Mullah, Marx, and Mujahid, Colorado 2002, 151.
4 Felix Ermacora, Report on the situation of human rights in Afghanistan, prepared by the Special Rapporteur, Mr. Felix Ermacora, in accordance with Commission on Human Rights resolution 1985/38, E/CN.4/1986/24, UN Commission on Human Rights, 17.2.1986, 12, www.refworld.org/reference/countryrep/unchr/1986/en/57907, letzter Zugriff: 6.3.2024.
5 Martin Ewans, Afghanistan: A New History. Richmond Place 2001, 168.
6 Martin Ewans, Afghanistan: A New History. Richmond Place 2001, 181.
7 Martin Lau, Afghanistan’s Legal System and its Compatibility with International Human Rights Standards, Final Report, International Commission of Jurists 2003, 4, https://icj2.wpenginepowered.com/wp-content/uploads/2003/02/Afghanistan-legal-system-fact-finding-report-2003-eng.pdf, letzter Zugriff: 6.3.2024.
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9 Conrad Schetter, The ‚Bazaar Economy‘ of Afghanistan – A Comprehensive Approach, in: Ch. Noelle-Karimi (Hrsg.), Afghanistan – A Country without a State?, Frankfurt a. M. 2002, 113.
10 Kabeh Rastin-Tehrani, Afghanisches Eherecht – mit rechtsvergleichenden Hinweisen, Frankfurt a. M. 2012, 16 f.
11 Nadjma Yassari, Das afghanische Recht zwischen Staat, Scharia und Gewohnheitsrecht, INAMO 57 (2009), 28.
12 Mark A. Drumbl, Rights, Culture, and Crime: The Role of Rule of Law for the Women of Afghanistan, Columbia Journal of Transnational Law 42 (2004), 349.
13 Willi Steul, Paschtunwali: Ein Ehrenkodex und seine rechtliche Relevanz, Wiesbaden 1981, 9.
14 Kabeh Rastin-Tehrani, Afghanisches Eherecht – mit rechtsvergleichenden Hinweisen, Frankfurt a. M. 2012, 17.
15 Thomas Barfield/ Neamat Nojumi/J. Alexander Thier, The Clash of Two Goods – State and Non-State Dispute Resolution in Afghanistan, hrsg. von United States Institute of Peace, 2006, 6, www.usip.org/sites/default/files/file/clash_two_goods.pdf, letzter Zugriff: 5.3.2024.
16 Martin Lau, An Introduction to Afghanistan’s Legal System, Yearbook of Islamic and Middle Eastern Law 8 (2001-2002), 28 f.
17 Asia Foundation, Afghanistan in 2006: A Survey of the Afghan People, 2006, www.baag.org.uk/sites/default/files/resources/attachments/Survey Afghan People 2006 report.pdf, letzter Zugriff: 5.3.2024.
18 Ali Wardak, Building a Post-War Justice System in Afghanistan, in: Nadjma Yassari (Hrsg.), The Sharīʿa in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt – Implications for Private Law, Tübingen 2005, 70.
19 Nadjma Yassari, Das afghanische Recht zwischen Staat, Scharia und Gewohnheitsrecht, INAMO 57 (2009), 27.